17/03/2024
«Bücher können nach wie vor etwas atemberaubend Wunderbares sein...»
Rezension erschienen in der Zeitschrift «Mit Kindern wachsen»
von Dr. Georg Grässlin, Ausgabe 04/2023
«Inmitten all der schrillen neuen Medien, die uns umgeben, ist es schön feststellen: Bücher können nach wie vor etwas atemberaubend Wunderbares sein: zugleich Kunstwerke und Weltenführer, die Gedanken freundlich an die Hand nehmen und in Räume nebenan führen. Olivier Kellers Buch führt uns mit seiner zurückhaltenden, freundlichen Art hinaus in einen Gedankengarten, der sich – ups – spannend und verschlungen, unvermutet gleich außerhalb des konventionellen Gedankengebäudes befindet: Wie kann Bildung ohne Schule funktionieren? – was wird aus Menschen, die in unserer hochspezialisierten und durchorganisierten Gesellschaft ohne Schule aufwuchsen?
Der Schlüssel, uns für dieses Thema zu verführen, liegt darin, dass die Kapitel des Buches ganz sachlich tatsächlich die Fragen behandeln, die beschulte Menschen spontan haben, wenn sie sich Menschen konfrontiert sehen, die keine Schule besuchten: So beschreibt Kapitel 3 empirisch den Erwerb elementarer Kulturtechniken durch Unbeschulte, Kapitel 4 analysiert die spezifischen Unterschiede von freiem Lernen gegenüber schulischem Lernen, Kapitel 5 wendet sich sachlich der Sozialkompetenz von Freilernenden zu, Kapitel 6 dem Übergang ins Erwachsenen- und Berufsleben. „Exkurse“ greifen dabei ganz explizit und prägnant genau die Vorurteile auf, die Menschen ohne Schule begegnen. Und von draußen, aus dem frischen Licht des Gartens betrachtet, sind diese vielen Vorurteile so banal vertraut wie erschreckend. Letztlich drängen sie die Einsicht auf, die als Zitat einer Mutter erscheint: „Die Gesellschaft hat große Angst vor Menschen, die nicht der Norm entsprechen, und schreckt auch nicht davor zurück, sie ihrer Persönlichkeit zu berauben“ (Seite 31). Warum diese Gewalt? Weil nichtkonforme Menschen allein durch ihre Existenz, beweisen, dass ein anderes Leben möglich ist, bar jeder Gewohnheit und Bequemlichkeit. Und das verunsichert umso mehr, je stärker Menschen vor sich selbst verleugnen, wie sehr dieses Gehäuse auf Gier, Lügen und Angst beruht.
Tatsächlich spannt schließlich das Nachwort zur aktuellen Auflage leidenschaftlich den philosophischen Bogen auf, der zuvor bereits durchschien. Denn noch immer, wie so trefflich formuliert: „... entgeht einer Mehrzahl der Bevölkerung, wie belastend gesellschaftliche Konditionierung auf die Persönlichkeitsstruktur wirkt.“ Danke, Herr Keller, dass Sie diesen wunderbaren, gewichtigen Hinweis darauf in die Welt gepflanzt haben!»
Ich danke Ihnen, Herr Grässlin für Ihre würdigenden Worte und Ihre inspirierende Überschrift:
QUI TACET, CONSENTIRE VIDETUR –
NUR IM SELBER SPRECHEN ERFAHREN WIR DIE WELT UND UNS IN IHR
Das Buch ist in der proGenia Edition erschienen.
Weitere Informationen, Rezensionen und Leseprobe finden Sie im:
proGenia.shop
https://progenia.ch/shop/buch/denn-mein-leben-ist-lernen/