11/07/2022
Eine Woche, nachdem ich Dienstag bis Sonntag auf dem Fusion-Festival in Lärz verbracht hatte, nun also das Heidewitzka auf der Langen Heide in Hildburghausen. Ich bin, weil ziemlich durch und etwas angekränkelt, nicht sehr viel dort gewesen. Trotzdem ein paar Gedanken.
Das Flaggschiff und die Archewitzka
Die Fusion ist das wichtigste Elektro-Festival der Welt. Seit 1996/97 hat sie sich auf dem 100 Hektar großen Gelände eines ehemaligen Militärflughafens in Mecklenburg zu einer Veranstaltung mit 70.000 Besuchern entwickelt. Die Wirkung, die die Fusion auf die globale elektronische Musik- und Festivalkultur hatte und hat, hängt aber nur teilweise an ihrer Größe. Sie setzt seit jeher neue Maßstäbe, was die Ästhetik ihrer Festivalbauten und die Infrastruktur des Geländes angeht. Der Umgang der Feiernden miteinander ist von großer Achtsamkeit, die Menschen sind von einer wilden Schönheit, die nur möglich wird, wenn die Angst davor, „was die anderen dazu sagen“, radikal weg ist. Die besten DJs der Welt geben sich bei der Fusion die Kopfhörer in die Hand, betreut von Sound- und Lichttechnikern auf Champions-League-Niveau mit dem besten und teuersten Equipment, das der Stand der Technik hergibt.
Die Fusion wurde auf dem Höhepunkt des weltweiten Siegeszugs des Bassbeats gegründet - und zwar von Leuten, die bereits Vollprofis waren, was die Organisation von Raves anbetrifft. Wie man in dem wunderbaren Film auf Amazon Prime in sehr berührender Weise erzählt bekommt, wurde das Heidewitzka demgegenüber von ein paar ambitionierten Dorfjungs- und Mädels gegründet, die von der globalen Festivalkultur keinen Dunst hatten. Aber sie hatten jede Menge Begeisterung im Gepäck für elektronische Musik und die unbeirrbare Entschlossenheit, hier in Hildburghausen ein echtes Elektrofestival hinzustellen. Das haben sie getan. Und sie hatten mit der Langen Heide einen Ort, der dafür perfekt geeignet ist.
Jetzt hatte ich innerhalb weniger Tage den direkten Vergleich. Und abgesehen davon, dass so ein Vergleich nur unfair sein kann, weil die Fusion immer das Mutterschiff sein wird, gegen das so ziemlich alle anderen Festivals nur abstinken können… schneidet das, was da auf der Heide abläuft, erstaunlich gut ab.
Vom Zauber der Sinnlichkeit
Beginnen wir mit der Ästhetik, denn die ist für jedes Festival entscheidend. Festivals sind kollektive Traummaschinen. Hier wird Lebensgefühl produziert und Gemeinsamkeit, Menschen erkunden neue Gefühlstiefen, sie erproben beim Tanzen ihre Körper, entwickeln neue Styles, machen radikal neue Erfahrungen ( - oder sie erlernen Plattheiten, Dummheiten und Scheissverhalten, solche Massenveranstaltungen gibt es ja bekanntlich auch).
Die Ästhetik des Heidewitzka ist absolut erfreulich in dieser Hinsicht. Das beginnt mit dem Weg vom Eingang zum Festplatz. Die Natur, die rund um diesen Fussweg wuchert, ist gut in Szene gesetzt und man rennt wie durch eine grüne Schleuse, die einen gleich mal in die richtige Stimmung versetzt.
Dann die Forest Stage, mein eindeutiger Favorit. Diese Bühne könnte man, so wie sie ist, auf die Fusion verpflanzen und sie wäre, eingerahmt von Bäumen und geprägt von einer psychedelisch inspirierten Deko und formschönen Baulichkeiten aus Holz, vermutlich auch dort recht populär. Die Forest ist aus meiner Sicht sowieso das Kleinod auf dem Gelände, der gelungenste Ort. Sie ist übrigens auch nicht zu laut, dazu später.
Extrem gelungen ist auch der Cube, diese rechteckige Area aus aufeinandergestapelten IBC-Tanks, die innen beleuchtet sehr schöne Effekte hergeben. Als Dancefloor ist der Cube ein großer Wurf. Eine simple, saugute Idee, konsequent und überzeugend ausgeführt, die einen hermetischen Space ergibt, eine Welt in der Welt. So muss das sein.
Ein Holzschiff gibt es ansonsten auf dem Fusion-Gelände auch. Aber die Archewitzka ist viel schöner. Was den Schiffsbau angeht, liegt also die Lange Heide vorne. Ahoi!0
Was mich nicht nur beim Heidewitzka, sondern bei fast allen Veranstaltungen aus dem Hause Brohm irritiert, ist die nahezu vollständige Abwesenheit von Chill-Out-Areas. Die Shisha-Lounge soll diese Rolle wohl spielen, tut sie aber nicht. Diese Lounge ist für sich genommen in Ordnung, aber sie ersetzt keine Area mit Hängematten in den Bäumen, gemütlichen Sitzgelegenheiten, Sofas, Feuerstelle, entsprechend chilliger Deko - und soweit ab vom Schuss, dass man mal eine Phase der Entspannung vom Bass- und Massendruck einlegen könnte, gerade bei einem mehrtägigen Festival.
Diese Fehlstelle auf der Heide ist umso rätselhafter, als die Moon-Circus-Crew ja gerade mit der neuen Strandbar am Stadttheater zeigt, dass sie problemlos in der Lage ist, extrem chillige Spaces zu kreieren…
Wenn die Mainstage ballert
Was Licht- und Soundtechnik anbetrifft, wird die Turmbühne der Fusion, auf einem großen Platz zwischen zwei ehemaligen Flugzeughangars, vermutlich immer eine Dimension für sich sein. Das Zeug, was da rumsteht und rumhängt, kostet Millionen, die Lichtarchitektur ist Science Fiction und es scheint der Ehrgeiz der Fusion zu sein, dass die Turmbühne Jahr für Jahr Maßstäbe vom anderen Stern setzt.
Was in dieser Hinsicht auf der Hauptbühne des Heidewitzka geleistet wird, ist allerdings auch sehr beeindruckend. Ein Freund aus Köln, den ich dabei hatte und selbst Veranstaltungstechniker älteren Semesters, hatte sowas noch nie gesehen und war fassungslos, was überhaupt geht heutzutage. Speziell die Lasertechnik hat sich halt auch rasant entwickelt und was am Wochenende auf der Main Stage der Heide an Effekten und Lichtarchitektur geboten wurde, wäre noch vor ein paar Jahren technisch gar nicht umsetzbar gewesen.
Für meinen Geschmack sollte man denen, die diese Effektmaschinerie betreiben, den Tip geben, dass eine gute Dramaturgie davon lebt, nicht pausenlos alle Knöpfe gleichzeitig zu drücken. Die Feuerkünstlerin, die rechts neben der Bühne auf einem extra Podest auftaucht, geht unter, wenn die Lightshow permanent aus allen Rohren feuert anstatt wenigstens für diese 2 Minuten ab und zu den Fuss vom Gas zu nehmen.
Aber das ist Detailkritik. Insgesamt ist die Lichtshow großartig und diese Tendenz zum Overload kann einem ja nur passieren, weil es diese herausragende technische Ausstattung überhaupt gibt. Alles in allem ist die Hauptbühne auf einem exzellenten Niveau, hier spielt das Heidewitzka ganz vorne mit und der Aufwand, der betrieben wird, ist sensationell. Riesen-Kompliment dafür.
Allerdings, Tendenz zum Overload… damit kommen wir zu meinem einzigen wirklichen Kritikpunkt an einem Festival, das ich insgesamt mit diesem Text vor allem feiern will und auf das die ganze Region stolz sein sollte.
Laut, lauter, am geilsten?
Ich habe Elektroveranstaltungen für mich Ende der 1990er Jahre entdeckt. Und wenn ich sage: das Heidewitzka ist das lauteste Elektro-Festival, an das ich mich momentan erinnern kann, dann ist das keineswegs als Kompliment gemeint.
Auch die Fusion ist ganz sicherlich nicht sparsam mit ihren Dezibel. Aber im direkten Vergleich innerhalb weniger Tage erschien sie mir nicht halb so laut, wie einige Floors auf dem Heidewitzka. Und ich meine: auf der Fusion war ich als Teil einer Crew direkt am Trancefloor geparkt, der jetzt nicht gerade als der leiseste Floor der Veranstaltung gilt.
Nun ist klar, dass diese Musikrichtung eine gewisse Lautstärke erfordert. Man muss den Bass im Körper spüren. Dagegen habe ich nichts, im Gegenteil. Genauso wie Elektro zu leise sein kann, um die Körper wirklich zu erreichen, gibt es freilich auch ein Zuviel an Lautstärke, das die Dynamik der Crowd dann eher niederdrückt als belebt.
Allerdings kommt der unangenehmste Teil der Lautstärke auf einigen Floors der Heide meines Erachtens eher nicht vom Bassdruck, sondern aus den mittleren und hohen Frequenzbereichen - und davon, dass der Sound mitunter zerrt. Das kann verschiedenste Ursachen haben, aber es tut teilweise schon weh und das muss nicht nur nicht sein, es bringt auch nix.
Man kann eben alles auch übertreiben und „Je lauter, desto geiler“ ist ohnehin ein problematischer Ansatz, wo wir im 21. Jahrhundert technisch in der Lage sind, nahezu jede erdenkliche Lautstärke herzustellen, bis hin zu akustischen Waffen in der (illegalen) Kriegführung.
Ich habe den Eindruck, dass es rund um die Heide einen regelrechten „Kult der Lautstärke“ gibt. Aber das ist ein fehlgeleiteter Ansatz. Damit eine Menge ins Ausflippen kommt, braucht es einen geilen Floor, gute DJs und wunderschöne, freie Menschen. All das hat die Heide. Bei der Lautstärke gibt es, once more, sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel.
Wohlgemerkt: diese freundschaftlichen Hinweise kommen nicht aus der Perspektive eines Anwohners, der über „Lärmbelästigung“ rumnörgelt. Sie kommen von einem Raver, der gerne auf Ohrstöpsel verzichten und sich trotzdem nicht das Gehör versauen würde. Ich kenne genügend Elektrofans älteren Datums, die inzwischen extrem schlecht hören…
Das Heidewitzka pusht die ganze Region
Abschließend will ich, auch um nicht Zustimmung aus der falschen Ecke zu bekommen, darauf hinweisen, dass das Heidewitzka von einer gar nicht zu überschätzenden Bedeutung für die gesamte Region ist und darum von öffentlicher Seite alle Unterstützung bekommen sollte.
Unter den Autos, die ich rund um das Gelände auf dem Weg zu meinem eigenen Wagen abgelaufen bin, sah ich Kennzeichen aus Frankfurt, aus Hannover und aus Freising, aus dem Rheinland und aus dem hohen Norden. Dieses Festival zieht Menschen aus allen Himmelsrichtungen und aus dem gesamten Bundesgebiet in unsere Region. Auf dem Campingplatz wäre das zweifellos noch deutlicher zu erkennen gewesen.
Man kann anhand der Fusion sehen, was ein zugkräftiges Festival über zweieinhalb Jahrzehnte für eine Gegend bedeuten kann. Und nur deshalb konnte die Fusion das 100-Hektar-Gelände 2003 auch mit Zustimmung der Stadt Lärz kaufen: weil sich trotz der Lautstärke der Fusion und trotz der schrägen Musik und der ungewohnten Leute, die da zum Feiern hinkamen, die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass dieses Festival für die Gegend eine enorm positive Dynamik ausgelöst hat: regelmäßige Investitionen und Aufträge für lokale Firmen durch das Festival selbst, die Einnahmen von Tankstellen, Geschäften, Hotels und Pensionen durch die Besucher, ein riesiger Schub für den Tourismus, Firmengründungen, Zuzug von Menschen, die die Region auf diese Weise entdeckt haben.
Eine besonders wertvolle Wirkung geht von diesen Festivals aus für die Bindung der heimischen Jugend an die Heimatregion. Aktuell baut der Kulturkosmos e.V. (der Verein hinter der Fusion) übrigens in Lärz eine Kindertagesstätte. Der Verein betreibt auch seit vielen Jahren aktive Jugendarbeit…
Dafür zu sorgen, dass talentierte, lebensfrohe, engagierte junge Leute hier bleiben oder wieder zurückkehren, ist auch für die Zukunft unserer Region von der allergrößten Wichtigkeit. Festivals sind dafür entscheidend. Das Heidewitzka zeigt den Kids: man muss nicht nach Berlin ziehen, um eine geile Jugend zu verbringen. Man muss nicht nach Frankfurt gondeln, um gute Elektro-Mucke zu hören. Sondern ich kann zu Fuß oder mit dem Rad zu einem Elektro-Festival von Rang gelangen - und Frankfurter kommen dafür sogar zu uns!
Wenn ich nun wieder erlebt habe, wie gefährlich die Schleusinger Straße für die Festivalbesucher ist, weil es die zuständigen Stellen trotz Bikertreffen und Heidewitzka bis heute nicht geschafft haben, einen sicheren Fußweg zur Heide zu legen, erkenne ich daran, dass die Bedeutung dieses Festivals und der Langen Heide insgesamt (das betrifft natürlich auch die Biker!) absolut nicht begriffen worden ist. Es wäre schön, wenn sich das schleunigst ändert.
Wo das Heidewitzka der Fusion überlegen ist
Mit der Allianz der Hildburghäuser Veranstalter haben wir als Festivalbetreiber in diesem Landkreis die Debatte darüber immerhin schon einmal gestartet, welcher Stellenwert diesen Events eigentlich zugemessen wird. Auch in der Breite der Bevölkerung setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Heidewitza eine sehr gute Sache für die Stadt ist. Menschen, die selber rein gar nichts damit anfangen können, erleben ja zum Beispiel, dass der eigene Enkel Feuer und Flamme für das Heidewitzka ist.
Und wenn es einen Aspekt gibt, in dem das Heidewitzka der Fusion den Rang abgelaufen hat, dann ist es das Alter der Besucher. Die Fusion war früher unglaublich jung. Der Pulk der 18, 19, 20jährigen war teilweise dominant. Bei 220 Euro Eintritt dieses Jahr und nach 23 Jahren Fusion ist das nicht mehr so. Die Fusion selbst ist gealtert. Teile des Publikums sind es auch.
Das Heidewitzka dagegen ist blutjung. Das ist mit das Beste, was man von diesem Event sagen kann. Denn die Kids lernen hier, wie man friedlich und ausgelassen feiert. Es entstehen Freundschaften, Liebesbeziehungen, Netzwerke, die diese Jugendlichen auf ewig im Herzen tragen und die sie mit diesem besonderen Ort und Ereignis in Hildburghausen verbinden werden. Dadurch wächst Identifikation mit der Region und ein Stolz auf die Heimat, der nicht aufgeladen ist mit Vorurteilen und Ressentiments, sondern mit Lebensfreude und Offenheit.
Aus diesem und aus allen anderen genannten Gründen ist das Heidewitza ein Hoffnungsfaktor für eine gute Entwicklung unserer Stadt und Südthüringens.
Von der Heide nach Lärz
Die Elektrokultur in dieser Gegend ist überhaupt sehr weit entwickelt. Volltreffer, denn damit hätte ich absolut nicht gerechnet, als ich 2008 genervt von Berlin hierher gezogen bin - einen Tag, nachdem meine Nachbarin in Berlin-Mitte wegen der Lautstärke meiner Bässe endgültig ausgeflippt war, obwohl ich die schon komplett rausgedreht hatte. So ändern sich die Zeiten. Einige Jahre zuvor war Berlin noch die unbestrittene Elektro-Hauptstadt der Welt gewesen…
Die Fusion ist aus der Breite und Tiefe dieser elektronischen Subkultur der 90er Jahre heraus zu dem geworden ist, was sie heute ist. Demgegenüber ist das Heidewitzka weitgehend „frei Schnauze“ hochgezogen worden. Diese Leistung ist umso höher zu bewerten, sie ist sogar geradezu unglaublich. Dadurch ist das Heidewitzka auch keine billige Kopie von irgendwelchen anderen Festivals. Sondern sie ist etwas ganz Eigenes und Unvergleichliches, was ja auch die Künstler, die hierherkommen, regelmäßig so bestätigen.
Umso spannender wäre, was passiert, wenn man jetzt eine kommunizierende Röhre von der Heide nach Lärz legen würde. Von daher möchte ich die Südthüringer Elektrofans, soweit sie noch nie dort waren, ermutigen, sich 2023 die Fusion anzuschauen. Die Fusion liegt terminlich leider ungünstig nah am Heidewitzka und viele von der Heide-Crew werden sich schwer tun, sich genau diese Tage freizuschneiden. An Fusion-Karten zu kommen, erfordert außerdem Schnelligkeit und etwas Glück. Es ist aber möglich, und sich vom Muttertier der Elektro-Festivals inspirieren zu lassen, ist sicher kein Fehler.
Und umgekehrt: die Kunde von der exzellenten Elektro-Szene Südthüringens auf den alten Militärflughafen in Lärz zu tragen, kann uns auch nur gut tun. Und obwohl ich selber keinen Alkohol trinke: sollten eines Tages die Voodoo Masters aus Eisfeld bei der Fusion auflegen, bringe ich eine Flasche Champagner mit!
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