25/08/2016
Der Alltag ist nicht immer organisiert worden. Dafür musste zuerst das Leben zerstört werden, angefangen bei der Stadt. Das Leben und die Stadt wurden nach Funktionen, »sozialen Bedürfnissen« aufgegliedert. Das Büroviertel, das Fabrikenviertel, das Wohnviertel, Freizeiträume, Trendviertel, in denen man sich vergnügt, der Ort, wo man isst, der Ort, wo man arbeitet, der Ort, wo man anbaggert, und der eigene Wagen oder der Bus, um alles zu verbinden, sind Ergebnis eines Prozesses des In-Form-Bringens des Lebens, der jegliche Lebensform verwüstet. Er wurde über ein Jahrhundert lang von einer ganzen Kaste von Organisatoren, einer ganzen grauen Armada an Managern mit Methode verfolgt. Das Leben und der Mensch wurden in ein Ensemble an Bedürfnissen zerlegt, um dann eine Synthese daraus zu organisieren. Ob diese Synthese den Namen »sozialistische Planung« oder »Markt« angenommen hat, spielt kaum eine Rolle. Dass sie zum Scheitern neuer Städte und zum Erfolg von Trendvierteln geführt hat, spielt kaum eine Rolle. Das Ergebnis ist dasselbe: Ödnis und existenzielle Depression. Von einer Lebensform bleibt nichts übrig, wenn sie in ihre Organe zerlegt wurde. Von daher rührt auch umgekehrt die greifbare Freude, die von den besetzten Plätzen der Puerta del Sol, des Tahrir, des Gezi ausströmte, oder die Attraktivität der Besetzung der Ländereien von Notre-Dames-des-Landes, trotz des fürchterlichen Schlamms dieser Bocage-Landschaft nahe Nantes. Von daher rührt die Freude, die von jeder Gemeinschaft ausgeht. Plötzlich ist das Leben nicht mehr in unverbundene Teile zerstückelt. Schlafen, kämpfen, essen, sich pflegen, feiern, sich verschwören, diskutieren gehören zum selben vitalen Impuls. Das alles ist nicht organisiert, das alles organisiert sich. Der Unterschied ist erheblich. Das eine verlangt Management, das andere Aufmerksamkeit – zwei in jeder Hinsicht unvereinbare Neigungen.
Wie eine Kraft organisieren, die keine Organisation ist? Auch hier muss die Frage, nachdem man sich seit einem Jahrhundert zum Thema »Spontaneität oder Organisation« streitet, schlecht gestellt sein, wenn nie eine gültige Antwort gefunden wurde. Dieses Scheinproblem beruht auf einer Blindheit, einer Unfähigkeit, die Organisationsformen wahrzunehmen, die alles sogenannt »Spontane« unterschwellig birgt. Jedes Leben und erst recht jedes gemeinsame Leben sondert von selbst Arten des Daseins, des Sprechens, des Produzierens, des Liebens, des Kämpfens ab, also Regelmäßigkeiten, Gewohnheiten und Sprache – Formen. Nur haben wir gelernt, in dem, was lebt, keine Formen zu sehen. Eine Form ist für uns eine Statue, eine Struktur oder ein Skelett, aber auf keinen Fall ein Wesen, das sich bewegt, isst, tanzt, singt und aufrührerisch ist. Die wahren Formen sind dem Leben immanent und nur in der Bewegung erfassbar. Ein ägyptischer Genosse erzählte uns: »Nie war Kairo so lebendig wie während des ersten Tahrir-Platzes. Da nichts mehr funktionierte, trug jeder Sorge für das, was ihn umgab. Die Leute nahmen sich der Abfälle an, reinigten selbst den Gehsteig und strichen ihn manchmal neu, zeichneten Fresken auf die Mauern, kümmerten sich umeinander. Sogar der Verkehr war auf wundersame Weise flüssig geworden, seit es keine Verkehrspolizisten mehr gab. Wir waren uns plötzlich der Tatsache bewusst geworden, dass wir der einfachsten Gesten enteignet worden waren, jener Gesten, die ausschlaggebend dafür sind, dass die Stadt uns gehört und wir ihr angehören. Am Tahrir-Platz trafen Menschen ein und fragten spontan, wo sie helfen konnten, gingen in die Küche, trugen die Verletzten auf Bahren weg, bereiteten Transparente, Schilder, Steinschleudern vor, diskutierten, dachten sich Lieder aus. Wir merkten, dass die staatliche Organisation in Wirklichkeit maximale Desorganisation war, da sie auf der Negation der menschlichen Fähigkeit beruhte, sich zu organisieren. Auf dem Tahrir-Platz erteilte niemand Befehle. Wenn sich irgendwer in den Kopf gesetzt hätte, all das zu organisieren, wäre es natürlich sofort in Chaos ausgeartet.«
entnommen aus Unsichtbares Komitee - An unsere Freunde
A nos amis bei La Fabrique éditions, Paris 2014