30/07/2024
Ein Blick hinter die Kulissen (m)einer Anwaltskanzlei:
Ein Gericht hat ein Urteil gefällt. Gilt dieses Urteil nun immer und überall?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, u.a.:
1.) Hat das Gericht eine Rechtsfrage entschieden, oder nur einen spezifischen Sachverhalt? Ein Beispiel: Ging es um die Verletzung der Verkehrssicherung, nachdem ein Besucher über ein Kabel gestolpert ist, kommt es maßgeblich auf die örtlichen Begebenheiten an. Ein solches Urteil kann man also nicht ohne weiteres für andere Örtlichkeiten kopieren.
Oftmals machen kleine Details (hell, dunkel, überraschend, bergab, bergauf, Untergrund, Wetter...) einen wichtigen Unterschied.
2.) In welcher Instanz wurde entschieden? Es macht ein Unterschied, ob "nur" ein Amtsgericht entschieden hat, oder der Bundesgerichtshof oder gar der Europäische Gerichtshof. Das bedeutet aber nicht, dass Urteile von Amtsgerichten nichts "wert" seien. Denn maßgeblich ist, wie ich als Rechtsanwalt die Begründung des Amtsgericht bewerte: Halte ich die Begründung für richtig und schlüssig, wäre es ja fatal, dieses Urteil zu ignorieren. 3.) Auch ein unterinstanzliches Urteil kann neue Trends setzen, und zu einem Umdenken bei den Obergerichten führen. Juristen sprechen gerne von "ständiger Rechtsprechung", d.h. alle Gerichte entscheiden die Frage XY immer gleich, insbesondere, wenn auch der Bundesgerichtshof das mal so entschieden hat. So verfestigt sich irgendwann eine richterliche Meinung. Aber diese muss ja aber nicht auf Ewigkeiten richtig sein: D.h. es kann durchaus passieren, dass plötzlich ein Richter einen neuen Einfall hat, und immer mehr Gerichte schließen sich dann dieser neuen Meinung an. Das passiert bspw. bei AGB-Klauseln: Jahrzehntelang wird eine Klausel als korrekt durchgewunken, bis mal ein Gericht anfängt, an der Wirksamkeit zu zweifeln.
4.) Idealerweise kennt man als Rechtsanwalt diese Tendenzen bzw. auch die Diskussionen in der Rechtswissenschaft: Es gibt bspw. Urteile, die werden von der Rechtsliteratur (das sind bspw. Uniprofessoren oder andere Anwälte, die sich zu den Urteilen äußern) für gut befunden, andere Urteile werden in der Luft zerrissen; bei letzteren ist natürlich die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch Gerichte irgendwann Zweifel bekommen. Dann liest man ggf. in einem Rechtskommentar oder Urteil den berühmten Satz: "An der bisherigen Rechtsaufassung wird nicht mehr festgehalten."
5.) Relevant ist schließlich auch, welches Gericht für den eigenen Rechtsstreit zuständig wäre. Wenn ich also einen Sachverhalt habe, der von einem Gericht in Berlin entschieden würde, ist ein Urteil aus Köln weniger relevant als Urteile aus Berlin. D.h. wenn ich mit "meinem" Fall vor dem Landgericht Berlin landen würde, und das Landgericht Berlin (vielleicht sogar die gleiche Kammer innerhalb des Landgerichts) die Rechtsfragen meines Falls bereits in der Vergangenheit mehrfach so oder so entschieden hat, dann muss ich eher davon ausgehen, dass das Landgericht Berlin meinen Fall auch so entscheiden würde. Man darf sich dann auch nicht der Illusion hingeben, man könne "einfach mal so" eine langjährige Spruchpraxis eines Gerichts verändern, nur weil der Herr Anwalt aus Karlsruhe hustet.
Also: Ein Teil meiner Arbeit als Rechtsanwalt besteht darin, möglichst passende Urteile zu finden und sie (nachdem ich sie gelesen und inhaltlich verstanden habe) richtig einzuordnen; und zu überlegen, inwieweit wesentliche Aspekte "meines" Falls vielleicht doch vergleichbar sind.