24/08/2022
Word.
Liebe Real Music Lovers,
lasst Euch nicht täuschen von den vielen bunten Bildern in Medien und sozialen Netzwerken, die uns signalisieren, die Kultur sei wieder voll erblüht und es gäbe eine riesige Nachfrage nach Konzerten und anderen Events. Für die sommerlichen Open Air Veranstaltungen mag das teilweise stimmen. Aber die ganze Wahrheit sieht anders aus: die komplette Szene steuert möglicherweise auf die nächste Katastrophe zu. Alle Indoor-Spielstätten, von den Liveclubs bis zu den Theatern, Hallen und Kleinkunstbühnen im ganzen Land berichten mehr oder weniger offen, dass es für ihre Hauptsaison ab Herbst kaum relevante Kartenvorverkäufe gibt.
War die Freude seit April 2022 in der Live-Szene zunächst riesig, endlich wieder ohne Einschränkungen Konzerte und sonstige Events durchführen, besuchen und genießen zu können, zeigt sich von Woche zu Woche deutlicher, dass die mangelnde Nachfrage nach Tickets für die nächsten Monate zunehmend Entsetzen und erneut Existenzängste auslösen - bei Künstlern, Agenturen, Veranstaltern und allen involvierten Dienstleistern. Heutzutage sind Vorverkaufsergebnisse der Gradmesser für wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg von Veranstaltungen und die Beteiligten können früh erkennen, ob ein Konzert, eine Veranstaltung oder eine Tournee den erwarteten Zuspruch finden wird. Bleiben Ticketverkäufe Woche für Woche auf niedrigem Niveau, ist eine defizitäre Veranstaltung zu erwarten, was sich aber nach der über zweijährigen, coronabedingten Durststrecke niemand mehr leisten kann.
Wer genau hinschaut wird feststellen, dass täglich überall im Land viele Einzelveranstaltungen und komplette Tourneen – ja sogar einzelne Festivals - für das Restjahr 2022 abgesagt werden, obwohl es zur Zeit keine schädlichen Veranstaltungsauflagen gibt. Es mehren sich die Stimmen, die nicht mehr wie üblich organisatorische Probleme oder Erkrankung als Absagegrund und Ausrede angeben, sondern offen und ehrlich kommunizieren, dass hauptsächlich wegen der Kaufzurückhaltung der Fans die Notbremse gezogen wird, um ein finanzielles Fiasko der Veranstaltungen zu vermeiden. Mutige Aussagen wenn man bedenkt, dass das Selbstwertgefühl von Künstler*ìnnen leiden muss, wenn ihre Kunst nicht gefragt zu sein scheint.
Fans und potentielle Veranstaltungsbesucher*innen hätten es selbst in der Hand, diesem verhängnisvollen Kreislauf zwischen mangelnder Nachfrage und Veranstaltungsabsagen gegenzusteuern. Würden sie Karten kaufen, käme es zu weniger Panikreaktionen und somit zu weniger gecancelten Events. Nur wer kann den Fans und potentiellen Besuchern ihre Zurückhaltung verdenken? Hatten sie doch nun über zwei Jahre erleben müssen, dass sie ihre bereits vor langer Zeit gekauften Karten immer noch nicht einlösen konnten, weil die Veranstaltungen zum x-ten Mal wegen Lockdowns und sonstigen Einschränkungen verschoben wurden. Oder sie hatten Aufwand und Probleme, wieder an ihr Geld für ganz abgesagte Events zu kommen, mussten sich mit Gutscheinregelungen herumschlagen und warten zum Teil heute noch auf Erstattungen.
Nicht nur für Kultur- und Veranstaltungsbranche waren diese beiden Pandemiejahre kaum planbar, auch Millionen von Veranstaltungsbesuchern haben die langandauernden Absagewellen erleiden müssen und waren als „User“ selbst von etlichen Enttäuschungen betroffen. Das Vertrauen der Kartenkäufer*innen ist verschwunden, für den Herbst und Winter bahnt sich ein neues, flächendeckendes Fiasko der Kultur an.
Gar nicht hilfreich, in unserem Zusammenhang sogar schädlich, ist die begleitende, unselige Debatte der Politik über das neue Infektionsschutzgesetz, das noch im August verabschiedet werden soll, um ab Anfang Oktober Gültigkeit zu haben. Noch ist nichts beschlossen aber viele verschiedene Positionen sind verkündet. In der Ampel streiten die Regierungsparteien über den richtigen Weg zwischen größtmöglicher Vorsicht und persönlichen Freiheitsrechten. Zwar soll es nicht mehr zu flächendeckenden Lockdowns kommen, aber das komplette Gruselkabinett kulturverhindernder Maßnahmen zwischen Masken- bzw. Testpflicht und möglichen Kapazitätsbeschränkungen soll den Ländern für den Fall der Fälle erneut zur Verfügung stehen. Heute berät übrigens das Bundeskabinett darüber. Wie das ausgehen kann, müssten wir alle mittlerweile wissen: Jedes Bundesland erfindet seine eigenen Regeln und wird sie wieder verdammt kurzfristig verkünden, bei welchen Grenzwerten auch immer. Deja Vu. Als hätte die Politik aus den letzten beiden Jahren nicht viel gelernt.
In Bayern wird es besonders spannend. Da das von der Staatregierung abgesegnete Oktoberfest am 3. Oktober endet, sind dort möglicherweise erst nach einer kleinen, politischen Schamfrist und somit wohl ab Mitte Oktober etwaige Einschränkungen zu erwarten, auch wenn ebenso zu erwarten ist, dass die bayerischen Regierungsparteien im Bund sich als Opposition verstehen und daher jede Einigung der Ampelkoalition kritisieren werden – egal wie sie ausfallen wird.
Anfang August wurden die ersten Gesetzesentwürfe und Standpunkte bekannt und die auf niedrigem Niveau stagnierenden Vorverkäufe brachen danach erst so richtig ein – überall und fächendeckend. Ein Bärendienst für die komplette Kulturszene, die mit hohen staatlichen Fördermitteln zwei Jahre gerettet werden musste, um sich nun entsetzt mitten im dritten Pandemiejahr zu befinden – nach wie vor ohne jegliche Planungssicherheit – allerdings mittlerweile auch ohne fortgeschriebenen Überbrückungshilfen der Politik, die seit Juni ausgelaufen sind.
Politisches Schönreden hilft da gar nichts. Schon gar nicht der Verweis auf einen erfolgreichen Kultursommer als Beleg des Wiederstarkens der Kultur. Die komplette Veranstaltungsbranche wartet derzeit auf die hohe Politik und fordert – bislang vergeblich – das Erkennen und Verstehen dieses zerstörerischen Teufelskreises aus Unsicherheit, mangelnder Nachfrage und Absagen. Die Verbände der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft finden laut eigenen Aussagen keine Ansprechpartner aus Regierungskreisen mehr, die sie auf die angespannte Situation hinweisen können und politische Notfallpläne, um der fatalen Entwicklung gegenzusteuern, existieren nicht. Der Blindflug der Kultur wird weiter gehen und das bestehende Disaster nur noch vergrößern.
Dabei ist die Szene personell ausgeblutet, weil eine hohe Anzahl an unsichtbaren aber immens wichtigen Frauen und Männern hinter den Bühnen, die Techniker, Backliner, Fahrer, Mercher, Bühnenbauer, Securities usw. mittlerweile aus ihrem Beruf ausgestiegen und in anderen Jobs gelandet sind. In der Mehrzahl bis März 2020 als erfolgreich Soloselbstständige unterwegs, mussten sie in den beiden letzten Jahren mit finanziell unzureichenden Hilfsangeboten seitens der Politik klar kommen und viele fühlten sich gezwungen, ihre Existenz in anderen Berufsfeldern zu sichern. Der personelle Aderlass erhöht wiederum die Nachfrage nach Fachpersonal und damit die Kosten für Veranstaltungen. Von der hohen Inflation und den steigenden Energiekosten sind wir ja mittlerweile alle betroffen, was die allgemeine Kaufzurückhaltung noch befeuert.
Zur Wahrheit gehört auch, dass es nicht nur die privatwirtschaftlich organisierte Kultur trifft. Aus der öffentlich subventionierten Theaterszene sind massenhaft Alarmrufe zu hören, die über drastische Auslastungseinbrüche in ihren Häusern berichten. Gemäß der vorherrschenden hohen Altersstruktur der Besucher sind hier die sogenannten Risikogruppen dominant (Ü60/Ü70 und älter), die offensichtlich aus persönlicher Vorsicht derzeit ihre Theater meiden, wie die Pest. Das Abosystem bricht vielerorts ein. Das alles kann nicht gut gehen.
Im Vergleich zu all den Nachrichten, die wir aus der Szene hören, geht es dem Colos-Saal noch verhältnismäßig gut – vielleicht auch wegen unseres fairen Reservierungssystems und seinen Vorteilen für unsere Besucher. Noch verkaufen wir auch Karten für die kommenden Monate, allerdings bei weitem nicht auf dem Niveau vorpandemischer Zeiten. Nur nützt uns das herzlich wenig, wenn wir unser Aschaffenburger Konzert innerhalb einer Tournee noch relativ gut verkaufen, aber das gleiche Konzert bei anderen Tourstationen in den anderen Städten schlecht läuft. Bei einer Tournee ist für die Beteiligten immer das finanzielle Gesamtergebnis im Auge zu behalten und wenn das in anderen Städten defizitär zu werden droht, müssen wir trotzdem damit rechnen, dass auch unser Konzert mit der gesamten Tour abgesagt wird.
Es ist uns hier sehr wichtig, auf die Zusammenhänge hinzuweisen, statt nur herum zu jammern und das eigene Los zu beklagen. Daher versuchen wir hier in diesen Zeilen auch eine Momentaufnahme der gesamten Live-Kulturszene zu beschreiben und gewisse Mechanismen zu erklären, die wir aus unseren diversen Netzwerken und zunehmend auch aus Presseberichten in Erfahrung bringen konnten.
Die tourneebedingten Absagen zwischen Ende August und Oktober im Colos-Saal-Programm sind nicht zu übersehen. Die Gründe: mal sind es die beschriebenen Vorverkaufsergebnissen unter aller Erwartungen, mal Long-Covid-Erscheinungen bei diversen Künstlern und zusätzlich noch der Brexit, der bei Tourneen britischer Künstler eine neue Kostenlawine auslöst. Bislang sind bei uns in diesem Zeitraum die Konzerte von Ian Paice, Ferocius Dog und Marc Broussard verschoben worden. Die Gigs und Tourneen von King`s X, Stan Webb, Y&T, Eric Gales sowie Tito & Tarantula wurden sogar ersatzlos abgesagt. Die angespannte Lage, so vermuten wir, wird in den kommenden Wochen allerdings noch weitere negative Überraschungen bringen, auf die wir kaum Einfluss haben. Absurderweise geschieht dies alles im Moment angesichts deutlich fallender Infektionszahlen.
Wie ist dieser Negativtrend zu stoppen? Das Publikum müsste trotz aller schlechten Erfahrungen wieder anfangen, Karten zu ordern und die Politik muss dringend die Kultur in ihre Zukunftszenarien mit eindenken und hoffentlich im Herbst schonen. Beides wird allerdings nur passieren, wenn Experten und Politik irgendwann mehrheitlich und guten Gewissens das Virus als allgemeines Lebensrisiko bewerten können und die Hospitalisierungsraten niedrig bleiben. Ansonsten droht der Kultur eine dritte und vierte Nullrunde in 2022 und 2023, somit großer, vielleicht irreparabler Schaden.
Ein letztes noch in eigener Sache: Trotz düsterer Aussichten bleibt das Colos-Saal-Team verhalten optimistisch und stemmt sich gegen sämtliche Negativtrends, indem wir es beispielsweise sogar wagen, unseren Personalstamm zu verstärken. Es bleibt uns zur Zunkunftssicherung nichts anderes übrig. Wir müssen neue Leute einstellen und anlernen, denn bei uns werden in den nächsten Jahren mehrere Mitarbeiter in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Gewöhnt Euch schon mal an drei neue Gesichter bei uns ab September. Darüber mehr im nächsten Newsletter.
Wir sehen uns (hoffentlich) auf den Konzerten.