11/03/2019
Dringende Leseempfehlung :)
Peter Hawig: Musiktheater als Gesellschaftssatire. Die Offenbachiade und ihr Kontext, Musikverlag Burkhard Muth, Fernwalde 2018, 565 Seiten, Preis?
„Was ist eine Offenbachiade?“ fragte Peter Hawig in einem vor etwa zwanzig Jahren im Rahmen der Bad Emser Hefte veröffentlichten Aufsatz. „Ein Bühnenwerk von Jacques Offenbach“, möchte man antworten, und merkt schon bei nur oberflächlicher Werkkenntnis, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Zu verschieden sind selbst Offenbachs bekannteste Werke, als dass sie unter einen gemeinsamen Begriff subsumiert werden könnten. Zwar sind sich z.B. der Orphée aux Enfers und die Contes d'Hoffmann bei näherer Betrachtung doch wesensverwandter, als man zuerst meinen möchte. Aber es trennt sie doch zu viel, als dass man beide Werke gleich kategorisiert sehen möchte – zu weit entfernt ist der Göttergalopp von der satanischen Dämonie der Schurkenrollen (oder DER Schurkenrolle?) in den Contes.
„Offenbachiade“ ist ein Kunstbegriff, der sich bereits zu Lebzeiten des Komponisten etablierte, und der Rezensent gibt zu, das er am liebsten ganz auf ihn verzichten würde. Zu missverständlich ist er, zu klischeebehaftet und zu sehr reduziert er das qualitativ wie quantitativ immense Gesamtwerk des Komponisten auf --- ja, auf was eigentlich?
Der Begriff ist aber nun einmal in der Welt und Peter Hawigs Definitionsversuch in Heftstärke von vor zwanzig Jahren ist unter dem Titel Musiktheater als Gesellschaftssatire. Die Offenbachiade und ihr Kontext zu einer über 500 Seiten starken Studie angewachsen.
Auf den Punkt gebracht – der Titel verrät es bereits – ist nach Hawigs Definition die Offenbachiade ein Werk Jacques Offenbachs, das auf eine spezifisch satirische, dramaturgische und natürlich musikalische Art und Weise auf einen ebenso spezifischen vorgefundenen gesellschaftlich-politischen und künstlerischen Rahmen reagiert.
Der gesellschaftlich-politische Rahmen ist das Zweite Kaiserreich unter Napoléon III. Der künstlerische Rahmen ist eine feste Gruppe von Offenbach zuarbeitenden Librettisten und darstellenden Kräften sowie eine Theaterlandschaft (deren Teil Offenbach natürlich ist), die wiederum ihrerseits auf den gesellschaftlich-politischen Rahmen reagiert, in dem sie die virulenten Wünsche des Publikums aufgreift, so dass eine Wechselwirkung entsteht, die sich z.B. in den Pressereaktionen widerspiegelt, die ein Werk loben oder abstrafen und so die im Orphée sogar personifizierte Öffentliche Meinung herstellen. Hawig widmet „Publikum und Vermarktung“ denn auch ein ganzes Kapitel, denn der weltweite Siegeszug der Offenbachiade zu ihrer Zeit und bis auf den heutigen Tag wäre nicht denkbar, hätte sie nicht in hohem Maße auf ein vorhandenes Publikumsbedürfnis reagiert.
Eine weitere Wechselwirkung besteht zwischen dem Komponisten und seinen Mitarbeitern, die einen gemeinsamen intellektuellen „Zugriff“ auf den gesellschaftlich-politischen und den künstlerischen Rahmen haben, auf den sie mit ihren Werken reagieren. Dafür steht ihnen eine bestimmbare Palette vorgefundener und selbstgeschaffener künstlerischer, inhaltlicher und formaler Mittel zur Verfügung: Satire und Parodie; Sentiment und Melancholie; eine tradierte musikdramatische Formensprache, die eine spezifische Verwendung erfährt; bewährte Stoffe und Situationen, die auf eine neue Art gedeutet werden und vor allem eine humanistische und lebensbejahende Geisteshaltung (vgl. insbesondere die Stichpunkte auf S. 72 f!).
Damit ist die Offenbachiade auch innerhalb des Schaffens des Komponisten abgrenzbar. Nicht alle seine Werke erfüllen die genannten Merkmale, nicht mit allen seinen Mitarbeitern schuf er Offenbachiaden, nicht für alle seine darstellerischen Kräfte und für nicht alle von ihm belieferte Theater komponierte er solche und auch nicht zu allen Zeiten seines Wirkens.
Die Zeit der Offenbachiade setzt 1855 mit der Gründung der Bouffes-Parisiens ein und endet 1870 mit dem Untergang des Zweiten Kaiserreichs. Davor und danach konnte es, definitionsgemäß, keine Offenbachiade geben. Hauptsächliche Librettisten der Offenbachiaden waren Hector Crémieux, Ludovic Halévy und Henri Meilhac, die prägendste darstellerische Kraft die legendäre Diva Hortense Schneider und die wichtigsten Theater die Bouffes-Parisienns und das Théâtre des Variétés. Andere Kräfte und Orte kommen vor, treten aber deutlich in den Hintergrund.
Allerdings schuf Offenbach mit den Kräften der Offenbachiaden auch „Nicht-Offenbachiaden“, die künstlerisch nicht weniger bedeutend sind – man denke nur an den herrlichen Einakter La Chanson de Fortunio von 1861, dessen Text von den Orphée-Librettisten Halévy und Crémieux stammt. Andere Werke, die ebenfalls in keiner Hinsicht Offenbachiaden sind, so der wichtige Fantasio von 1872, schuf er zum Teil mit völlig anderen Kräften.
Hawig identifiziert nach den skizzierten Kriterien 13 Bühnenwerke des Komponisten (von über 100!) als Offenbachiaden und stellt diese ausführlich und kenntnisreich in Monographien vor. Das Initialwerk ist der frühe Einakter Ba-Ta-Clan von 1855, das späteste Werk der Dreiakter Les Brigands von 1869. Der deutsch-französische Krieg beendete diese Schaffensphase für den Komponisten wohl weitgehend unerwartet. Für die Nachkriegszeit identifiziert Hawig noch drei weitere „Post-Offenbachiaden“, in denen der Komponist das „Erbe der Offenbachiade“ (S. 460) unter veränderten Bedingungen weiterführt.
Hawig begründet seine Definition der Offenbachiade schlüssig und profund am Werk und den Zeitumständen, wobei er alle vorgefundene Aspekte beachtet und wertet. So erbringt er den Nachweis, dass die Offenbachiade wesentlich komplexer ist als „Nur-Satire“ oder „Nur-Parodie“, auf die sie oft reduziert wird. Insbesondere gelingt es ihm, die weitgehend unbekannten Traditionen, an denen die Offenbachiade anknüpft, zu benennen sowie – und vor allem! – eine Geisteshaltung und Hoffnung der Autoren zu extrahieren: In der Offenbachiade manifestiere sich „in der Utopie einer Überwindbarkeit gefährlicher Abgründe eine Art Paradies.“ (S. 73). Dies aber ist nun wesentlich mehr als die bloße Herrschaftskritik, die der Offenbachiade – oft gönnerhaft – zugestanden wird.
Man muss dem Autor vielleicht nicht in allem zwingend zustimmen, insbesondere bei der Identifizierung der „Post-Offenbachiaden“ hätte der Rezensent einige Anfragen. So würde interessieren, warum Hawig Le Roi Carotte oder La Voyage dans la lune nicht dazu zählt, obwohl diese Werke die Merkmale der Post-Offenbachiade durchaus erfüllen. Sollte alleine der Féerie-Charakter sie ausschließen, würde der Rezensent Einspruch erheben.
Allerdings lenkt das Kapitel über die Post-Offenbachiade das Interesse auch auf eine Frage, deren Bearbeitung jedoch ein weiteres Buch erfordern würde, nämlich ob nach 1870 nicht aus dem Geist der Offenbachiade eine zweite, ganz eigen geartete Form der Offenbachiade entstanden sein könnte? Geschaffen mit weitgehend, wenn auch nicht nur neuen Mitarbeitern und unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, für neue Kräfte und für eine völlig gewandelte Theater- und Presselandschaft?
Der schöne Einakter Pomme d'api von 1873 kommentiert nicht minder satirisch bissig die bürgerliche Dritte Republik, als La Vie parisienne 1866 das Zweite Kaiserreich kommentierte, auch wenn sich die Inhalte nun gewandelt haben. Wären dann die märchenhaften Le Roi Carotte oder Le Voyage dans la lune nicht vielleicht sogar prototypische Werke dieser neuen Offenbachiade? Anders in den künstlerischen Mitteln und in den Inhalten, aber doch die legitimen Erben der „ursprünglichen“ Offenbachiade?
Da die „ursprünglichen“ Offenbachiaden auch nach 1870 erfolgreich wieder aufgenommen und vom Komponisten sogar teilweise noch einmal für ein neues Publikum überarbeitet wurden, ist eine Kontinuität in seinem Schaffen offensichtlich. Aber ließen sich nach 1870 nicht auch neue Ansätze benennen, welche die Identifikation einer selbstständigen Offenbachiade rechtfertigen würden, die Kontinuität und Bruch gleichermaßen in sich vereinigt und weit mehr wäre als „nur“ Post-Offenbachiade?
Möglicherweise konnten wir Peter Hawig mit diesen Gedanken bereits zu einem weiteren Buch anregen. Die Lektüre des Vorliegenden sei jedem Interessierten und natürlich besonders jedem Freund Jacques Offenbachs wärmstens ans Herz gelegt, denn der Leser profitiert nicht nur von Hawigs umfassender Kenntnis des Gesamtwerks Jacques Offenbachs, sondern auch von seinem Wissen über die Zeitumstände seiner Entstehung. So entsteht auch ein farbiges Tableau des Zweiten Kaiserreichs und insbesondere seiner Theaterszene. Detaillierte Angaben zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der vorgestellten Werke, zur Quellenlage, zur Diskographie und Hinweise zur Aufführungspraxis bilden einen bedeutenden Mehrwert.
Ungewöhnlich ist der von Anatol Stefan Riemer verfasste, rund hundertseitige Exkurs Zur Erinnerungsmotivik in den Offenbachiaden und der Großen romantischen Oper Die Rheinnixen, der zwischen die Kapitel „Blick auf die Welt“ und „Rezeption und Nachleben“ eingefügt wurde und zunächst in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest des Buchs zu stehen scheint. Er öffnet freilich die Offenbachiaden hin auf ein ganz anderes Werk Offenbachs, ein Unikum: die große romantische Oper, und es zeigen sich Unterschiede und Kontinuitäten im Schaffen Offenbachs. Als eine der wenigen genuinen und auch gelungenen musikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Offenbach ist der kundige Beitrag Riemers absolut lesenswert. Er rundet Peter Hawigs wichtige und bleibende Studie zu einer bislang mehr Verwirrung als Klarheit stiftenden Begrifflichkeit erfreulich ab.
Ralph Fischer